Nachtrag von Mitte Oktober 2004
Ich sitze in der S-Bahn vom Taunus nach Frankfurt/Main. Als sie im Westbahnhof einfährt, sehe ich dort zwei Gestalten stehen. Ich kann nur vermuten, dass es sich um Frauen handelt, denn sie sind von Kopf bis Fuß schwarz verschleiert. Nur schmale Augenschlitze bleiben, die zweithärteste Stufe, die ich kenne – nach dem „Imkerhelm“.
Die Gestalten steigen ein und ich spüre etwas in mir. Hinter den Gedanken und vordergründigen Gefühlen von Bedauern und Lächerlichkeit nehme ich zwei authentische Gefühle war. Da ist zum einen Aggression, das Bedürfnis, den Schleier vom Gesicht zu reissen. Bei den Protesten an der Startbahn West galt noch das Vermummungsverbot, wurden Freunde geschlagen, weil sie sich dem Überwachungsstaat entziehen wollten. Hier dagegen zeigt eine menschen- und frauenverachtende Religionsvariante ihre verhüllte Fratze, pervertiert die Freiheit, für die unsere Vorfahren gekämpft haben.
Hinter der Aggression entdecke ich das Gefühl der Bedrohung. Es ist kein bunter, lustiger, verspielter Mummenschanz, es ist das Schwarz von Trauer und Tod. Wer sagt mir, was sich hinter dieser Verkleidung verbirgt? Es können zwei Frauen sein. Es kann sich aber auch um Gotteskrieger handeln, Männer mit Bart und Bombengürtel, die nur darauf warten, die S-Bahn im vollbesetzten Hauptbahnhof in einen splitternden, scharfkantigen Torpedo aus Glas, Stahl und Feuer zu verwandeln.
Ich habe Angst.
Es geht nicht darum, ob die Angst begründet ist oder nicht. Sie ist da. Und ich habe Augen im Kopf, um zu sehen, dass diese Gestalten auch an meinen Mitreisenden nicht spurlos vorübergehen. Ich frage mich: Kann ich darüber reden? Kann ich diese Angst mit anderen Menschen teilen, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden?
Denn Deutschland ist krank.
Dieser Tage las ich über die Band „Virginia Jetzt!“, denen von Musikmagazinen „Deutschtümelei“ vorgeworfen wird, weil sie in einer einzigen Textzeile von „Das ist mein Land, meine Menschen“ singen. He, Deutschland ist mein Land, meine Heimat. Ich bin Deutscher. Ich bin sicher nicht stolz auf alles, was hier so vor sich geht, weiss Gott nicht. Aber wollen wir alles, was mit „Heimat“ zu tun hat, den „Rechten“ überlassen, der NPD, DVU und den Reps?
Seit dem 25. August 1967 haben wir in der BRD das Farbfernsehen, aber in den Köpfen vieler Deutscher scheint noch immer Schwarz-Weiss vorzuherrschen. Wenn der neue Bundespräsident Horst Köhler zu Recht die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland thematisiert, geht ein Aufschrei durch die Republik. Wenn jemand die faschistoide Politik Israels anklagt, wird er als Antisemit an den Pranger gestellt und dem Zentralrat der Juden in Deutschland muss Abbitte geleistet werden.
Ja, haben wir sie denn noch alle? Haben wir denn vergessen, dass es nicht nur schwarz und weiss gibt? Dass dazwischen viele Abstufungen von Grau existieren, ja dass es gar rot, grün, gelb, türkis oder violett gibt?
Niemand ist per se gut oder schlecht, nur weil er Deutscher oder „Ausländer“, Mann oder Frau, schwarz oder weiss, Christ, Jude oder Moslem ist. Wenn der amerikanische Songwriter Randy Newman die oben erwähnten Zeilen singt, wird er von den deutschen Medien bejubelt, für eine deutsche Band soll es dagegen tabu sein.
Das dritte Reich ist vor bald 60 Jahren zu Ende gegangen. Doch wirklich aufgearbeitet scheint diese Zeit noch nicht. Und wo fleissig weiter verdrängt wird, da wächst der Schatten, feiern die Rechten ihre Wahlerfolge bei den Landtagswahlen 2004 im Saarland, in Brandenburg und Sachsen. Wollen wir wirklich so lange verdrängen, bis der Schatten groß genug ist, um einen zweiten Hitler zu nähren? Denn solange wir verdrängen, können Debatten über Kopftücher, Moslems, Israel und vieles mehr gar nicht sachlich geführt werden.
Ich muss dabei an ein Erlebnis denken angesichts der oben erwähnten Wahlen. NPD und DVU zogen in die Landtage von Sachsen und Brandenburg ein. Dementsprechend waren Vertreter in den Wahlstudios anwesend. Doch während alle anderen Parteivertreter – sogar die im Vorfeld schwer diffamierte PDS – halbwegs reden durften, wurden die Vertreter der Rechten knallhart ausgeknockt. Alle anderen Politiker verließen demonstrativ die jeweiligen Studios und die Moderatoren knüppelten den NPD- und den DVU-Vertreter durch beständige Einwürfe und sinnlose Fragen in kürzester Zeit nieder. Es war kein Privatsender, es war das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Es handelte sich um Vertreter legal existierender Parteien, denen ein nicht unwesentlicher Prozentsatz der Bevölkerung zweier Bundesländer ihre Stimme gegeben hatte.
Ich kann wunderbar auf Nazis und Faschisten verzichten – genauso wir auf Kommunisten oder die römisch-katholische Kirche. Aber ist es ein Zeichen von Demokratie, legal gewählte Volksvertreter wie Aussätzige zu behandeln? Im Bundesland Hessen darf dagegen ein Mann regieren, der in eine Schmiergeldaffäre ungeheuren Ausmaßes verwickelt war; ein Mann, der dennoch gute Aussichten hat, eines nicht allzu fernen Tages Kanzlerkandidat zu werden. Wo bleibt hier das Verhältnis?
Wir brauchen keine „rechten“ oder „linken“ Regierungen, genauso wenig wie schwarz/weiss in unseren Köpfen. Was wir brauchen, ist Kompetenz – und da ist es mir egal, ob derjenige der SPD, CDU, FDP, den Grünen oder gar keiner Partei angehört. Wobei wirklich kompetente Menschen in der Parteispitzen dünn gesät sind. Wenn dann noch die Desinformation der Volksvertreter aufgrund ihrer lichtjahreweiten Distanz zur Realität dazu kommt, ist klar, warum wir da stehen, wo wir augenblicklich sind.
Der Karren Deutschland steckt tief im Dreck. Und es braucht mehr dazu als den plakativen Aufruf eines Roman Herzog „Es muss ein Bild durch Deutschland gehen!“, um ihn herauszuziehen. Wir brauchen Mut, differenziertes Denken, Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, unserem Schatten ins Gesicht zu schauen. Ansonsten sehe ich schwarz: so schwarz wie die Konten und Seelen manch politischer Führer, so schwarz wie die Springerstiefel brauner Horden und so schwarz wie der Tschador muslimischer Frauen in unseren Städten.
24/03/2005 @ 8:29 am
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