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Stories vom Arbeitsamt – Teil 2

Mein Kumpel Joe wurde kürzlich arbeitslos. Kommt ja in den besten Familien vor. Also musste er endlich seinen Antrag auf ALG abgeben. Hat er lang vor sich hergeschoben. Denn als er es zuletzt Anfang 2004 im Bad Homburger Arbeitsamt getan hat, landete er in einem Gang mit lauter wartenden Menschen. Es gab nur ein einziges Zimmer für alle. Ein Mann darin. Zumindest sah er aus wie ein Mann. Vermutlich war er ein Ungeheuer. Männer kamen aus diesem Zimmer, Mordgelüste ins Gesicht geschrieben. Frauen krochen weinend auf ihrem Zahnfleisch hinaus. Als Joe damals jenes Zimmer betrat, sah ihn die Bestie nicht an, grüßte ihn nicht, nahm nur kurz seinen Antrag, stellte zwei fehlende Angaben fest und warf Joe sofort wieder hinaus. Zwischen ängstlichen und zähneknirschenden Wartenden stellte er seinen Antrag fertig, gab ihn eine halbe Stunde später ab und verschwand. Sollte er etwa dieser Bestie erneut gegenübertreten?
Joe ist kein fauler Mensch. Er hätte diese Situation gern verhindert. Aber was sollte er machen? Er hatte nur einen Arbeitsvertrag über ein Jahr bekommen. Heutzutage gabs in seiner Branche kaum noch unbefristete Verträge. Das Projekt war abgelaufen. Keine Verlängerung. Kein Job im direkten Anschluss in Aussicht. Die Bestie wartete.
Natürlich wiegten sie Joe in Sicherheit. Als er seinen Antrag abgeholt, in dem großen runden Wartesaal brav sein Nümmerchen gezogen hatte, rief ihn nach einer Stunde doch tatsächlich eine umwerfend attraktive Frau in ihr Zimmer. Die männlichen Wartenden schauten neidisch, war doch bei sechs Zimmern ihre Chance gering, Joe zu folgen. Dem war das allerdings egal. Er wollte nur eine kompetente Beratung. Schnell rein, schnell raus aus diesem Laden.
Jetzt war es höchste Zeit, den Antrag auszufüllen. Aber was war das? Die „Erklärung zu selbstständiger Tätigkeit“, die Joe aufgrund seiner Nebeneinkünfte ausfüllen musste, war nicht lesbar. Sah aus wie die schlechte Kopie eines grottenschlechten Faxes. Im Internet fand sich das Formular nicht, wäre auch zu schön gewesen. Die Lachnummer arbeitsagentur.de. Also musste Joe wieder zum Arbeitsamt. Einfach ein neues Exemplar holen, schnell rein, schnell raus.
Ja, sagte sich Joe. Ich werde gar nicht erst eine Nummer ziehen und eine Stunde warten. Nein, ich betrete den runden Warteraum und gehe direkt in eines der Zimmer, als hätte es seine Richtigkeit. Ich brauch ja nur ein neues Formular, sonst nichts.
Joe erreichte den zweiten Stock des Gebäudes, bog um die Ecke und lief förmlich gegen eine Wand. Da war eine Schlange bis auf den Flur, meterlang, 20 Menschen. Es gab keine Nummern mehr. Man kam gar nicht erst in den Wartesaal. Dort stand nun nämlich ein Tresen, dahinter zwei Frauen. Die eine fertigte die Kunden ab. Zumindest versuchte sie es. Denn in den zehn Minuten, die Joe wartete und die Schlange hinter ihm lang und länger wurde, ging es nicht einen Zentimeter vorwärts. Die andere Dame hinterm Tresen sah ihrer Kollegin zu, sagte zuweilen etwas, telefonierte mal, kümmerte sich aber nicht um die Kunden. Heilige Scheisse, das konnte den ganzen Tag dauern.
Joe focht einen innerlichen Kampf aus. Das Böse siegte. Er quetsche sich an der Schlange vorbei. Ging zu der arbeitslosen Frau hinterm Tresen. Schilderte sein Problem. Sie tat sich schwer, verstand aber irgendwann. Ging in ein Zimmer. Kam nicht wieder.
Joe stand nun da, mitten im runden Wartesaal. Da kamen Blicke aus der Schlange. Dolchförmig. Tödlich. Hey, wollte er rufen, ich brauch doch nur ein neues Formular, ich hab hier schon meine Wartezeit abgesessen, damals. Ich bin kein Vordrängler.
Ewigkeiten später kam die Frau zurück.
„Also, dieses Formular, das sie da haben, also, das kennen wir nicht. Wir wissen gar nicht, woher die Kollegin das hatte. Das einzige, was ich ihnen anbieten kann, ist dieses Formular.“
Es war eine „Erklärung zu selbstständiger Tätigkeit“, nur anders. Dieselbe, die Joe bereits letztes Jahr ausgefüllt hatte. Mit Betragsangaben in DM. Im Jahr 2005. Er würde wieder alle seine monatlichen Euro-Einkommen in wöchentliche DM-Angaben umrechnen müssen. Super. Toll. Und jetzt raus hier.
Joe stellte zu Hause seinen Antrag fertig. Am nächsten Morgen brach er früh auf. Schaute im zweiten Stock nach, wo er hin musste. Dort war schon wieder die Schlange. Oh, er musste in den dritten Stock, anders als letztes Jahr. Er ging hin. Ein Zimmer, davor ein Mann wartend. Nur einer? An der Zimmertür ein Schild „Antragsangabe nur mit Termin“. Oh, nein. Er fragte den wartenden Mann.
„Jaja, sie brauchen einen Termin.“
„Aber ich habe keinen Termin. Niemand hat mir etwas davon gesagt.“
„Doch, das steht auf ihrem Antrag.“
Der Mann zeigte Joe seinen Antrag. Darauf stand ein Termin.
Joe zeigte dem Mann seinen Antrag. Darauf stand kein Termin.
„Wenn Sie ihren Antrag abholen, kriegen Sie eine Telefonnummer. Dort müssen Sie anrufen. Sie sagen, zu welchem Arbeitsamt sie möchten und die geben ihnen dann einen Termin.“
Joe hatte keine Telefonnummer.
„Dann müssen sie nochmal in den zweiten Stock und sich eine Telefonnummer holen.“
Joe sah vor seinem geistigen Auge die Schlange vor sich. Ein Martyrium? Ein Kreuzweg? Herr, was habe ich getan?
„Als ich den Antrag abgeholt habe, gab es das noch nicht. Die haben seitdem mal wieder ihr ganzes System geändert.“
„Ja, sie haben zu lange gewartet. Also, ich hab meinen Antrag vor einer Woche geholt, hab vor fünf Tagen angerufen und jetzt kann ich meinen Antrag abgeben.“
Scheiss Streber.
Es konnte einfach nicht sein. Hier saß er mit seinem fertig ausgefüllten Antrag, nur ein Mann zwischen ihm und dem Biest, und er sollte nicht dürfen. Wenn er einfach ohne Termin… ? Das würde das Biest nie zulassen. Aber vielleicht gab es gar kein Biest mehr? Die Antragsabgabe war nicht mehr im zweiten Stock, wo auch die Schöne hauste, die subversiv schlechte Kopien unter die Antragssteller verteilte. Das Biest war vielleicht in seiner Höhle im zweiten Stock geblieben…
„Ich könnte ja fragen, ob ich meinen Antrag einfach so abgeben kann?“
„Das geht bestimmt nicht. Und erst gebe ich meinen Antrag ab“, meinte der Streber.
Die Tür ging auf und ein alter Kerl verschwand. Ein junger Kerl kam heraus. Noch ein Arbeitsloser?
„Sie können jetzt hereinkommen“, sagte der junge Kerl zu dem Streber.
Kein Biest. Ein netter, junger Mann. Joes einzige und letzte Chance.
„Bitte entschuldigen Sie…“ Joe erklärte mit kurzen Worten den Sachverhalt.
„Also, sie brauchen schon einen Termin.“
„Aber bei mir gab es das noch nicht. Es dauert keine fünf Minuten. Ich hab alles sauber ausgefüllt, war doch für die Frankfurter Agentur tätig.“
Die Kollegen-Nummer. Die zog fast immer.
„Ich schau mal. Wenn es jetzt schnell geht und noch Zeit ist.“
Joe wartete. Ein neuer Antragsabgeber kam. Ein Osteuropäer. Joe rechnete. Für jede Antragsabgabe war eine Viertelstunde kalkuliert.
Der Osteuropäer beschwerte sich. Er wusste nicht, in welches Zimmer er sollte. Konnten sie ihm bei der Terminvergabe nicht sagen. Er sollte erst unten im Erdgeschoss bei der Zentrale nachfragen. Aber da hatte er die letzten 20 Minuten gewartet. Keiner da. Jetzt wusste Joe, warum nie einer ans Telefon ging, wenn er hier bei der Arbeitsagentur anrief.
Der Streber kam. 10 Minuten hatte er gebraucht. Joe schlüpfte ins Zimmer. Nach drei Minuten war er wieder draussen. Geschafft. Auch ohne Termin.
Jetzt wartet er. Seit Wochen. Auf den Bescheid. Auf sein Geld. Aber das ist eine andere Geschichte und wird vielleicht ein ander Mal erzählt werden.

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