Bislang konnte ich vermeiden, etwas zu der Flutkatastrophe in Südostasien zu schreiben. Aber ich sitze nicht in einem Elfenbeinturm.
Mir fällt es schwer, bei Unglücken in fernen Ländern Gefühle zu spüren. Ich muss dann an ein altes Lied von Anyone’s Daughter mit dem Titel „Der Plan“ denken. Es geht um eine Frau, die sich Sorgen über genau diese Unfähigkeit der Empfindung macht und deshalb den Plan fasst, immer dorthin zu gehen „wo das Leiden am schlimmsten ist“.
Es ist eine Möglichkeit. Aber ist es eine Lösung? Wird man nicht zum Gefühlsjunkie, der seine tägliche Dosis Trauer und Tränen braucht?
Ich lasse mich gern berühren, weine bei manchen Filmen am Ende einfach nur. Gleichzeitig bin ich abgebrüht. Als Rettungshelfer habe ich oftmals Menschen in Not erlebt, mich um sie gekümmert. Keiner von uns hätte diesen Job machen können, wenn ihm bei jedem abgetrennten Glied, jedem Blutspritzer schlecht geworden wäre. Man macht dann Witze, die andere pietätlos finden. Man braucht diesen inneren Abstand zum Überleben.
Doch gab es immer wieder Tage, wo ich von der Rettungswache oder dem Krankenhaus nach Hause kam, und völlig fertig war. Diese Tage, an denen mancher Kollege zum Alkoholiker wurde. Mich hat es immer dann besonders heftig getroffen, wenn der Typ, den wir von der Straße gekratzt hatten, so alt war wie ich oder jünger. Wenn es Kinder getroffen hat, die noch so viel Leben vor sich gehabt hätten. Das macht mich fertig, gestern wie heute.
Je näher die Katastrophe rückt, desto stärker der Schmerz.
Ob in Südostasien 2000, 20000 oder 200000 Menschen ums Leben gekommen sind: ich kann das in mir nicht spüren. Da ist kein Unterschied. Wenn ich dann das Bild eines verletzten Kindes sehe, das aus meiner kleinen Stadt stammt, zwar überlebt, aber seine Eltern dort verloren hat, dann ist da ein Schmerz in meiner Brust, etwas wird eng.
Es sind Bekannte von mir dort unten. Ich weiss nicht, ob sie leben.
Der Tod gehört zu uns. Er ist unser Begleiter. Ich fürchte ihn und ich mag ihn. Er kann mir überall begegnen: in der Gondel zur Zugspitze, beim Paddeln auf dem wilden Fluss, plötzlich im Bett oder – und das ist besonders wahrscheinlich – durch irgendeinen Besoffenen oder Raser auf deutschen Straßen. Oder eben in Südostasien.
Der Tod ist vielleicht gar nicht das Problem. Was uns so fertig macht, ist seine Plötzlichkeit und der Schmerz.
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